Dornenvögel


Tierfotografie in der Sonora-Wüste

von: Ute und Jürgen Schimmelpfennig
Wüsten gelten schon allein aufgrund des permanenten Wassermangels als unwirtliche Lebensräume. Die Sonora-Wüste im Südwesten der USA jedoch ist nicht nur trocken, sondern beheimatet auch eine stattliche Zahl äußerst wehrhafter Gewächse. Mit unzähligen Dornen versuchen sich die Pflanzen vor hungrigen Tieren zu schützen und plagen damit auch harmlose Fotografen. Viele Vögel aber profitieren sogar von diesen Schutzmechanismen. Ute und Jürgen Schimmelpfennig haben die erstaunlichen Lebensweisen der „Dornenvögel der Sonora-Wüste" mit der Kamera eingefangen.

Jumping Cholla oder auch Never-to-be-forgotten-Cholla heißt im Südwesten der USA ein buschiger „aggressiver“ Kaktus. Seine dornigen Glieder springen den Wanderer förmlich an, wenn er ihm zu nahe kommt. Schmerzhaft bohren sich die Dornen mit Widerhaken in die Haut – ein wahrhaft unvergessliches Erlebnis! Das gilt aber nur für menschliche Gäste im Kaktusland – nicht für die gefiederten Einwohner, die „Dornenvögel“ der Sonora-Wüste. An ihrem glatten Gefieder und der panzerartigen Hornhaut der Beine prallen die Marterwerkzeuge ab. Ihre Nester, die sie deshalb mitten im Dornengewirr bauen können, werden zu einer für Räuber uneinnehmbaren Festung.

Große Hitze – wenig Schatten

Diese Dornenvögel in der Kakteenwüste zu fotografieren ist eine schweißtreibende Aufgabe: Geduldiges Ausharren in der Hitze, ohne Schatten weit und breit, erfordert einen Sonnenschutz für Mensch und Fotoausrüstung. Der Fotograf braucht Hut, helles langärmeliges Hemd und eine Sonnencreme mit hohem Schutzfaktor, für Kamera und Objektiv hat sich ein lose übergehängtes helles Handtuch bewährt – wenn es nicht gerade sehr windig ist. Auf ein Ansitzzelt haben wir verzichtet, es wäre zu heiß darin geworden. Der Nachteil: Man steht offen in der Wüste, es gibt kaum Deckung. Nur selten lassen sich überhängende Zweige eines schütteren Strauches als Versteck nutzen. Das neh-men vor allem die Greifvögel übel. Schrittweise Annäherung auf Fotodistanz und viel Geduld über mehrere Tage sind die Lösung.
Beim Anschleichen empfiehlt es sich, nicht nur das Motiv im Auge zu behalten, sondern auch die auf dem Boden verstreuten und locker am Stamm hängenden Kakteenabschnitte, die sich selbst im Leder fester Schuhe und durch den Stoff derber Hosen in der Haut festkrallen, wenn man ihnen zu nahe kommt.

Geschützter Nistplatz

Der Vogel mit der größten Vorliebe für diese Jumping Chollas ist der Kaktuszaunkönig, der Wappenvogel Arizonas. Männchen und Weibchen bauen gemeinsam ein kugelförmiges Nest aus trockenen Gräsern in die dornigen Äste des Kaktus. Den Rohbau polstern sie mit Federn und zarten Pflänzchen aus. Zwischendurch verkündet das Männchen immer wieder lauthals singend den Besitzanspruch an „seiner“ Cholla und dem umliegenden Revier. Beide Eltern füttern die Jungen mit Insekten, die sie auf dem Boden jagen oder aus ihren schattigen Verstecken zwischen den Kaktusdornen aufspüren. Ihren Flüssigkeitsbedarf decken sie aus der Nahrung. Offenes Wasser, selbst wenn es zur Verfügung steht, trinken sie selten.
Auch der glänzend schwarze Trauerseidenschnäpper mit den roten Augen baut sein Nest bevorzugt in einen Cholla-Kaktus. Aus Halmen und dünnen Zweigen webt er einen stabilen Napf und verankert ihn in einer Astgabel im Zentrum der dornigen Seitentriebe. Hat der Vogel dafür einen altersschwachen, weniger buschigen Kaktus ausgewählt, gelingt es sogar, ihn zwischen den Ästen hindurch auf dem Nest zu fotografieren und, während die Eltern auf Nahrungssuche sind, einen vorsichtigen Blick auf die Küken zu werfen.

Belichtungsprobleme

Das Problem bei diesem Motiv ist die richtige Belichtung. Draußen gleißendes Licht, drinnen tiefer Schatten auf einem schwarzen Vogel, der jeweils nur für Sekunden zum Füttern auf dem Nestrand sitzt. Bei jedem Anflug haben wir eine andere Variante ausprobiert. Fazit: Solche Kontraste kann unsere Kamera nicht bewältigen. Ein Aufhellschirm für die Tiefen, damit die Umgebung nicht überstrahlt wird, hätte das Problem sicherlich gelöst. Aber so ein „Monster“ ist den Vögeln
suspekt. Deshalb verzichten wir darauf und setzen auf die Notlösung: Aufhellung der Tiefen mit Hilfe von Photoshop in der Nachbearbeitung.

Kooperativer Gimpel

Der Mexikanische Karmingimpel beschert uns diese Probleme nicht, denn er brütet nicht im dunklen Zentrum des Kaktus, sondern weiter außen in der sonnendurchfluteten dornigen „Krone“. Der Nestbau ist Sache des Weibchens. Während es in der Umgebung auf dem Boden dünne Zweige, trockene Halme, Büschel von Pflanzenfasern und weiche Kräuter mit Blüten zum Auspolstern sammelt, folgt ihm das Männchen im Flug und trägt immer wieder von erhöhter Warte aus sein Lied vor. Auch während sie das Nistmaterial zwischen den dornigen Ästen des Kaktusbusches zu einem Napf formt, be-wacht er das Territorium und markiert es durch seinen Gesang. Das Männchen, erkennbar an seinem leuchtend roten Kopf- und Brustgefieder, führt nur eine „Saisonehe“ mit dem unscheinbar gefärbten Weibchen. Im nächsten Jahr wirbt es um eine andere Partnerin. Je intensiver das Rot der Federn, um so attraktiver wirkt es. Es hängt von den Farbstoffen in der Pflanzennahrung ab, wie stark diese Signalfarbe nach der Mauser in den neuen Federn ausgeprägt wird. Der Karmingimpel ernährt sich hauptsächlich von pflanzlicher Kost. Sein keilförmiger Schnabel weist ihn als Körnerfresser aus. Wenn sich allerdings die großen, weißen Blüten des Saguaro, des Riesensäulenkaktus, öffnen, nascht er auch Blütenstaub und trinkt Nektar aus den tiefen Blütenkelchen.

Kaktus in Baumgröße

Der Saguaro ist das Wahrzeichen der Sonora-Wüste. Er wächst 12 bis 15 Meter hoch, reckt seine dornenbesetzten Seitenarme gen Himmel und wiegt nach einem Regen mit seinem prall gefülltem Wasserspeichergewebe bis zu eine Tonne. Mancher erreicht sogar das „biblische Alter“ von 200 Jahren bei einer Höhe von 20 Metern. Die Kandelaberkakteen, wie diese Kaktusriesen auch genannt werden, ersetzen die in der Wüste fehlenden Bäume und bilden in der kargen Landschaft ausgedehnte, nahezu schattenlose Wälder.
Diese Saguaros sind zur Blütezeit ein beliebter Treffpunkt für die Dornenvögel, denn sie alle nutzen die süße Quelle, um ihren Körper mit der nötigen Flüssigkeit zu versorgen. Besonders in den kühleren Morgenstunden sind sie leicht beim Blütenbesuch an den Kaktusriesen zu beobachten – aber schwierig zu fotografieren: Zu hoch, zu steil … Aber auch jüngere Saguaros, die noch nicht so groß sind, bilden schon die begehrten Blüten, und alte Exemplare besitzen Seitenarme, die sich mit ihrem Blütenkranz nach unten neigen, manchmal sogar bis auf Augenhöhe. Hier ist ein Ansitz vielversprechend.
Außer Kaktuszaunkönig und Karmingimpel ist die Krummschnabel-Spottdrossel regelmäßig an den Blüten zu beobachten. Sie kann sich mit ihrem langen, dünnen, gebogenen Schnabel besonders gut bedienen. Nebenbei fängt sie Insekten, die Blütenstaub sammeln. Auf die saftige Beikost verzichtet auch der Allesfresser Kolkrabe nicht. Die Weißflügeltaube dagegen ernährt sich und ihre Jungen sogar hauptsächlich von Pollen und Nektar der Riesenkakteen. Diese Abhängigkeit geht sogar so weit, dass ihre Brutzeit erst beginnt, wenn sich die ersten Blüten öffnen. Das schwankt von Jahr zu Jahr je nach Zeitpunkt der spärlichen Regenfälle. Als „Gegenleistung“ für den über viele Wochen reich gedeckten Tisch helfen die Vögel – zusammen mit Insekten und Fledermäusen – bei der Bestäubung, indem sie den Blütenstaub, der an ihren Köpfen hängen bleibt, von einem Kaktus zum anderen tragen. Mit den entstehenden Früchten sichern sie nicht nur den Fortbestand des Saguaro, sondern auch für sich selbst eine weitere ergiebige Nahrungsquelle während der langen Durststrecke des Sommers.

Spechte im Kakteenwald

ie in einem echten Wald leben auch im Kaktuswald Spechte, zum Beispiel der Gilaspecht. Statt ins Holz zimmert er seine Bruthöhle ins Wasserspeichergewebe des Saguaro-Stammes. Der Meißelschnabel durchstößt zunächst die dornige Außenhaut und trifft darunter auf dünne Holzlatten, die den Kaktus von innen stützen. Ohne ein solches „Skelett“ wäre die beträchtliche Wuchshöhe gar nicht möglich. Auch diese Schicht ist schnell überwunden, und der Specht hackt nun Stücke des Wasserspeichers aus dem Innern heraus. Das Problem: Es wird nass. Das Wasser trieft nur so von den Wänden! In diesem Zustand ist die Höhle nicht nutzbar, sie muss erst austrocknen. Es dauert einige Monate, bis der Kaktus die innere Verletzung durch ein Narbengewebe abgedichtet hat. Das Instinktverhalten der Spechte ist darauf abgestimmt. Sie zimmern „vorausschauend“ schon im Vorjahr die Höhle, die sie im folgenden Jahr benutzen wollen!
Die Punktlandung an einem senkrechten Stamm ist für Spechte generell kein Problem. Auch die Dornenbüschel, die dicht an dicht auf den Längsrippen an der Kaktusoberfläche sitzen, machen ihnen nichts aus, obwohl ihre vorgestreckten Füße im Anflug mit großem Schwung auf den bis zu sieben Zentimeter langen „Spießen“ aufprallen.
Nach den ausgiebigen Zimmermannsarbeiten und der wochenlangen Brut und Aufzucht der Jungen zeigt das Umfeld des Höhleneingangs schließlich deutliche Abnutzungserscheinungen: Die Dornen sind abgebrochen, die ehemals grüne Kaktushaut, von den Krallen verletzt, ist nun bräunlich verfärbt und vernarbt: Die Spechte haben sich eine glatte Landebahn geschaffen.
Die Populationsdichte der Gilaspechte ist so groß, dass viele Saguaros mehrfach durchlöchert sind. Für Fotos eignet sich nur eine Höhle, die nicht zu weit oben im Stamm liegt. Das Einflugloch ist in der Regel nach Südwesten ausgerichtet. Das schränkt gute Anflugaufnahmen wegen der Lichtführung auf wenige Stunden am Tag ein.

Greife mögen alte Kakteen

m Alter von etwa 60 Jahren ist ein Saguaro sechs Meter hoch und beginnt erste Seitentriebe zu bilden. Aber noch viele Jahrzehnte vergehen, bis er die typische Gestalt eines vielarmigen Kandelabers erreicht hat. Dann wird er interessant für Greifvögel, wie zum Beispiel den Rotschwanzbussard. Er ist kein typischer Wüstenvogel, denn er besiedelt von Alaska bis Mexiko ganz unterschiedliche Lebensräume. Sein Anspruch an den Neststandort beschränkt sich auf die Kriterien „hoch“ und „weiter Überblick“. Das kann ein Felsen, ein Baum oder, wie hier in der Sonora-Wüste, ein alter Saguaro bieten. In dessen schützende und stützende Arme baut er ungeachtet der stacheligen Umgebung seinen Horst. Genauso macht es der Wüstenbussard. Konkurrenz mit dem Rotschwanzbussard um den Neststandort gibt es nicht, denn an Kaktusriesen herrscht kein Mangel.

Irgendwann nach vielen Jahrzehnten, manchmal auch erst nach mehr als einem Jahrhundert wird ein Saguaro altersschwach und stirbt. Sein weiches Wasserspeichergewebe verfault als erstes, übrig bleibt das „Skelett“ aus bleichen Holzlatten, das noch viele Jahre weiterhin aufrecht steht. Die harten Holzstreben bilden einen stabilen Korb mit guter Belüftung und beschatten den hohlen Innenraum während der Mittagshitze. Diesen idealen Nistplatz haben sich Louisianawürger ausgesucht. Mitten im Saguaro-Gerippe, das mit seinen schmalen Zwischenräumen die Eltern zwar ein- und ausfliegen lässt, aber Nesträuber aussperrt, sind Eier und Junge bestens vor Überhitzung und Austrocknung geschützt. Die Dornbüsche in der Nachbarschaft dienen als Ausguck während der Jagd, zur Zwischenlandung beim Anflug auf das Nest, als Treffpunkt der Partner zur Futterübergabe und – wie bei allen Würgern – als Vorratskammer: Ein Teil der Beute wird aufgespießt zur späteren Verwendung.

Die Sonora-Wüste: So weit das Auge reicht – undurchdringliche Kakteendickichte, sperrige Dornbüsche, stachelige Kerzensträucher, überragt von den mächtigen
Saguaros. Diese mit Dornen gespickte Welt ist für die gut angepassten Vögel keineswegs ein lebensfeindliches Biotop, sondern ihr Paradies - für hitzeresistente Fotografen ist sie ein El Dorado lohnender Motive!

Ute und Jürgen Schimmelpfennig
… beide pensionierte Gymnasiallehrer für Biologie, haben viele Jahrzehnte gemeinsam als Naturfotografen gearbeitet. Ihr besonderes Anliegen war es, die Tiere mit ihren spezifischen Verhaltensweisen in ihrem natürlichen Lebensraum zu beobachten und ökologische Zusammenhänge in ihren Fotos zu dokumentieren. Die „Dornenvögel“ der Sonora-Wüste war ihr letztes gemeinsames Fotoprojekt. Jürgen Schimmelpfennig ist im November 2016 verstorben.