Essenz einer Landschaft


Über Bedeutungen und Inte­r­pretationen eines oft verwen­deten Begriffes

von: Jan Zwilling
Begreift man die Landschaftsfotografie als künstlerischen Ausdruck, stehen einem vielfältige Wege offen, das Gesehene zu subjektivieren. Das fertige Foto kann damit sowohl ein Abbild der physischen Welt als auch Ergebnis individueller, persönlicher Entscheidungen sein. Interessan­terweise nutzen sowohl die Realisten als auch die Künstler unter den Landschaftsfoto­grafen immer wieder einen Begriff, um ihre Fotos zu beschreiben: Essenz. Auch Jan Zwilling hat die entspre­chenden englischen Begriffe »essence« oder »quintessential« schon mehr als einmal für Bildtitel verwendet und stellte sich am Beispiel einer in Norwegen entstandenen Bildserie die Frage, was damit im fotografischen Kontext gemeint ist oder gemeint sein kann. Er stieß auf viele Interpretationen, Verbindungen, Widersprüche und Paradoxe – nicht nur für die Frage, inwieweit einen die Suche nach der Essenz einer Landschaft in die Gefilde der Realisten treibt oder künstlerische Ansätze auf Umwegen genau denselben Effekt haben können. 

Gängige Wörterbücher halten drei verschiedene Erklärungen für den Begriff »Essenz« bereit. Erstens meint er die intrinsische, abstrakte Natur oder Qualität von etwas, die seinen Charakter bestimmt. Zweitens kann mit Essenz ein Bestandteil oder Element von etwas (oder ein Arrangement von Bestandteilen oder Elementen) gemeint sein, ohne das dieses Etwas entweder gar nicht existiert oder nicht dasselbe wäre. Und drittens schließlich meint Essenz ein Extrakt oder Konzentrat, das aus Pflanzen oder anderen Dingen gewonnen wird und als Geschmacks- oder Geruchsstoff eingesetzt werden kann. Alle drei Definitionen verweisen auf Aspekte, die im Kontext der Landschaftsfotografie bedeutsam sein können. Zum Beispiel verweist die Vokabel »intrinsisch« darauf, dass sich die Qualität von etwas darauf stützt, dass nichts von außen hinzugefügt oder zugeschrieben wurde – ein natürlicher Zustand quasi, was fast idealtypisch auf naturbelassene Landschaften hindeutet. Darüber hinaus ist der Hinweis darauf, dass Essenz durch das Arrangement von oder das Fokussieren auf bestimmte Bestandteile oder Elemente herausgearbeitet werden kann, sehr gut übertragbar auf das, was wir als Fotografen tun: bestimmte Einzelelemente identifizieren, selek­tieren und sie zu einer Bildkomposition zusammenfügen. Nicht zuletzt ist der Brückenschlag zur Destillation von Gerüchen und Aromen reizvoll, denn eine einzelne Scheibe aus dem Raum-Zeit-ontinuum zu extrahieren und in Form eines Fotos für die Ewigkeit zu erhalten ist im Grunde nichtsanderes als den Geruch von Lavendelblüten zu destil­lieren und in einem Tropfen Öl zu konservieren, oder?Lässt man den Gedanken an diesem Punkt freien Lauf, werden zunächst mehr Fragen als Antworten auftauchen: Findet sich die Essenz einer Landschaft im Typischen, also in den Bestandteilen, die am häufigsten vorkommen, oder im Einzigartigen, die sie zu etwas Besonderem machen? Meint die Essenz eines Ortes dasselbe wie die einer ganzen Region oder gar eines Subkontinents? Kann man die Essenz einer Landschaft überhaupt objektiv fassen oder hat diese auch eine sehr individuelle, subjektive Komponente? Und wie lässt sich all dies übersetzen in fotografische Techniken oder Methoden wie Langzeitbelichtungen oder Detailaufnahmen? In den folgenden Abschnitten will ich diese Fragen systematisch aufwerfen und Antworten anbieten.

Häufigkeit oder Einzigartigkeit?

Wie eingangs erwähnt, kann der Begriff »essenziell« sowohl charakteristisch als auch unverzichtbar bedeuten. Diese beiden Wörter scheinen auf den ersten Blick dasselbe zu meinen, sie sind aber in entgegengesetzte Richtungen interpretierbar – mit enormen Auswirkungen auf eine Fotografie, die die Essenz einer Landschaft festhalten will. Der Terminus »unverzichtbar« zeigt an, dass ein Element von so grundlegender Bedeutung für etwas ist, das ohne dieses Element das »Etwas« entweder nicht mehr existiert oder nicht mehr das ist, was es mit dem Element wäre. Die naheliegende Fortführung des Gedankengangs ist, dass der essenzielle Bestandteil der häufigste und prägendste sein muss. Übertragen auf natürliche Landschaften bedeutet dies, jene 
Bestandteile in den Blick zu nehmen, die quantitativ dominieren. Skandinavien beispielsweise ist auf einem Großteil seiner Fläche von Nadelwäldern dominiert, deren Erscheinung sich auch über Hunderte Kilometer nicht ändert. Es ist zudem geprägt von Hochflächen, dem »Fjäll« des Skanden und des hohen Norden. Zehntausende ähnliche Felseninseln säumen die schwedischen und finnischen Ostseeküsten, Zehntausende visuell vergleichbare Seen liegen in den endlosen Wäldern. Diese Elemente der skandinavischen Natur nehmen eine um ein Vielfaches größere Fläche ein als die dramatischen Küstengebirge der Lofoten oder die weltberühmten Fjorde. Wir können also mit großer Sicherheit behaupten, dass die Wälder, Seen, Hochebenen und Schären weitaus typischer für Skandinavien sind als die Postkartenmotive, die gemeinhin mit der Region assoziiert werden.
Wenn wir uns in der Interpretation von essenziell aber in Richtung »charakteristisch« bewegen, könnte dies uns auch in entgegengesetzte Richtung treiben: Es ist absolut legitim zu argumentieren, dass der Charakter einer Landschaft – ebenso wie der eines Menschen oder einer Stadt – stärker von jenen Elementen bestimmt wird, die sie einzigartig machen und von anderen unterscheiden. Um dies zu verdeutlichen, können wir ein kleines Experiment machen: Denken Sie dazu einmal kurz an das »Rote Herz« Australiens: eine Millionen Quadratkilometer mit rotem Sand, Schotter und kleinen Büschen von Triodia-Gras soweit das Auge reicht. Irgendwo, mitten in dieser Wüste, liegen einige Sandsteinmonolithen, der berühmteste heißt »Uluru«. Quantitativ argumentiert ist dieser Berg nichts als eine Nadel im Heuhaufen und für die Gesamtheit des »Roten Herzens« völlig unbedeutend. Dennoch ist genau dieser Felsen ein herausragendes charakteristisches Element. Ohne ihn wäre das »Rote Herz« nur eine weitere Wüste wie einige auf diesem Planeten. Mit ihm ist es ein Wallfahrtsort, ein Magnet.

Absolut oder relativ? Objektiv oder subjektiv?

Beide Interpretationsstränge sind völlig legitim und in sich schlüssig. Welchen man persönlich für naheliegender hält, hängt von Antworten auf zwei weitere Fragen ab, die sich geradezu aufdrängen: Ist Essenz ein absolutes oder relatives Konzept? Und ist die Essenz einer Landschaft etwas, das einfach da ist – im Sinne des Existenzialismus – oder etwas, das von Menschen konstruiert wird und daher sehr individuell sein kann? Der Interpretationsstrang, der auf die herausstechenden und einzigartigen Elemente abstellt, stützt sich auf Essenz als relatives und subjektives Konzept. Damit etwas charakteristisch genannt werden kann, muss es von anderen Dingen abgegrenzt und daher verglichen werden. Wenn man Skandinavien als »Fjorde mit ein wenig Hinterland« ansieht – was in den Prospekten von Reiseveranstaltern und auch in den Portfolios etlicher Landschaftsfotografen zum Ausdruck kommt –, dann zeigt dies, dass viel mehr Gewicht darauf gelegt wird, was diese Region etwa von der Taiga in Russland unterscheidet, und weniger darauf, was ihr häufigstes Element ist; dies wäre sicher wie in der Taiga der endlose boreale Wald. Zudem enthüllt diese Interpretationsweise, dass Essenz eine soziale Konstruktion ist. Es sind wir Menschen selbst, die ständig vergleichen, die zu Reisen aufbrechen an Orte, die ungleich jener sind, die wir jeden Tag sehen oder schon kennen. Wir befinden uns in permanentem Austausch über Orte, formen Assoziationen und Wahrnehmungen über Fotos, die nur einen winzig kleinen Ausschnitt der gesamten Region zeigen. Das ist die Quintessenz – Ironie ist gewollt – des »icon shooting«, dem Standardmodus der großen Mehrheit der Landschaftsfotografen seit Beginn der Kunstform. Landschaftsfotograf auf »essenzieller« Mission zu sein, könnte daher bedeuten, den Menschen und Kollegen einen anderen Blick darauf zu ermöglichen, was typisch für eine Region ist.

Land oder Licht?

Es ist ein viel debattiertes Thema, ob man lieber einen inspirierenden Ort in mittelmäßigem Licht oder einen mäßig inspirierenden Ort in tollem Licht fotografiert – sofern man nicht beides haben kann, natürlich. Im Zusammenhang mit der Suche nach Essenz einer Landschaft ist die Antwort auf diese Frage eigentlich klar: Es geht vor allem um den Ort, wenn nicht gar ausschließlich. Konsequent weitergedacht impliziert dies sogar, dass Licht, welches zu stark selbst Teil des Bildes ist, die Aufmerksamkeit von der Landschaft abzieht und daher das Ziel, die Essenz ebenjener Landschaft abzubilden, korrumpiert. Wir könnten es dabei belassen und »essenzialistische« Landschaftsfotografie definieren als jene, die den Himmel entweder komplett ausschließt oder dem Licht eine subtile, untergeordnete Rolle zuweist, so dass der Löwenanteil der Aufmerksamkeit der Landschaft zugeht. Aber ganz so einfach ist es nicht. Ein Pro und ein Contra:
Im August 2016 fotografierte ich im Hinterland der Lofoten. Ein Sturm zog ab und die großen, dunklen Wolken dominierten den Himmel. Eine Stunde vor Sonnenuntergang bildeten sich im Westen kleine Lücken in der Wolkendecke und ließen immer wieder flaches Sonnenlicht hindurch. Sturmwolken, warmes Licht und als Zugabe ein kleiner Regenbogen, was kann man sich besseres wünschen? Doch habe ich dadurch die Essenz dieser Landschaft eingefangen? Ich habe Regenbögen schon in Deutschland, Italien, Südafrika, Irland, den USA und Norwegen fotografiert. Sie entstehen jedes Mal auf dieselbe Art und Weise, und haben auch eine vergleichbare visuelle Erscheinung. Wesentlich unterscheiden sich nur die räumlichen Kontexte. Oder, um es zuzuspitzen: es gibt kaum etwas Ortsspezifisches an Regenbögen, nirgendwo ist er ein »essenzielles« Element einer Landschaft, weder im »häufigen« noch im »einzigartigen« Sinne. Dasselbe gilt für das Licht der Blauen Stunde, für farbenfrohe Sonnenuntergänge oder warmes Gegenlicht am Frühabend. Licht, so scheint es, hat nichts mit der Essenz der Landschaft zu tun. Mein Glücksmoment im Hinterland der Lofoten war also »einfach nur« ein tolles fotografisches Erlebnis und brachte mich der Essenz der Landschaft nicht wirklich näher.
Auf der anderen Seite sind durchaus Situationen vorstellbar, in denen spezielle Licht- und Wettersituationen in die Konstruktion der Essenz einer Landschaft einbezogen werden können. Kriterien dafür wären, dass sie regelmäßig an einem Ort auftreten und sehr typisch für diesen einen oder relativ wenige Orte auf der Welt sind – sie also guten Gewissens als »charakte­ristisch« anzusehen sind, wenngleich sicher nicht als »unverzichtbar«. Mögliche Beispiele sind die Monsunstürme im Südwesten der USA, die spezielle Wolkenformationen erzeugen (Virga) und damit zu einem Erkennungsmerkmal für diese Region geworden sind. In hohen Breiten sind Nordlichter ebenso prägend, so dass sie als »Markenzeichen« von Island, Norwegen oder dem Yukon dazugehören. Im Norden Norwegens habe ich im Winter 2015 zudem ein Foto kreiert, das ich »A quintessential sunrise« genannt habe – ohne zu antizipieren, dass mir dieser Name jetzt eine Steilvorlage für diesen Argumentationsstrang liefert. Das für hohe Breiten typische, stundenlange flache Winterlicht zeichnet Orte über dem Polarkreis besonders aus. Einzelne Situationen wie diese können dazu beitragen, sich der Essenz eines Ortes weiter anzunähern, doch die Behauptung eines »essenziellen Lichts« hat große Unschärfen und sollte daher nur in Ausnahmefällen herangezogen werden.
Diese Gedanken zu Licht und Wetter gelten nebenbei bemerkt auch für andere flüchtige Phänomene, etwa die Herbstfärbung laubwerfender Bäume und Büsche. Die ist sowohl ein globales Phänomen, das sich im Grunde nicht qualifiziert für eine Essenz-fokussierte Fotografie, als auch gibt es einzelne Orte und Regionen, für die es zum Bestandteil ihrer Essenz-Konstruktion geworden ist (der »Indian Summer« Neuenglands beispielsweise). In diesem Sinne wandeln wir auch hier zwischen dem Existenziellen und Vergänglichen, dem Normalen und Einzigartigen, dem Wahrhaftigen und dem Klischee. 

Alles muss rein?

Bislang habe ich Begriffe für unterschiedliche räumliche Dimensionen – Ort, Region, Landschaft – ohne expliziten Hinweis darauf benutzt, wie wichtig der Aspekt der Skala oder räumlichen Größenordnung für das Thema dieses Artikels ist. Zum einen stellt sich die Frage, welche Proportion die räumliche Einheit überhaupt hat, deren Essenz man aufstöbern und fotografisch interpretieren möchte. Zum anderen steht man vor der Wahl der Größe des Blickwinkels: Ob Weitwinkel mit dem Blick auf »alles« was die Landschaft enthält oder eine Nahaufnahme kleinerer Bestandteile oder Ingredienzien – es gibt viele Optionen und Denkrichtungen.

Die erste Frage ist schwierig allgemeingültig zu beantworten, weil es so viele mögliche Vorgehensweisen und Methoden gibt. Je größer die Raumeinheit wird, die man in ihrem Kern fotografisch festhalten möchte, desto schwieriger wird diese Aufgabe. Dies wird besonders dadurch erschwert, dass die Raumeinheit größer sein kann als das, was man mit einem Bild überhaupt einfangen kann. Es ist also eine große Herausforderung, die häufigsten, typischsten oder charakteristischsten Elemente einer Region, eines Landes oder gar eines Kontinents zu identifizieren, weil der Prozess der Selektion immer dominierender wird. Der einzig seriöse Weg, dies zu tun, sind große Bilderserien, die einem weitaus größere Freiheiten in der Selektion und Kuratierung geben. Wählt man kleinere Einheiten, dann ist es auch mit einer kleinen Serie oder gar – wenn man es sehr gut durchdenkt und geschickt anstellt – mit einem einzelnen Bild möglich. Egal wie klein die Raumeinheit gewählt ist, alle Elemente in einem Bild zu kombinieren, die man als essenziell für diesen Ort ansieht, und diese an einem einzelnen Moment abzulichten, bleibt die ultimative Herausforderung.

Extraktion und Dekomposition

Für den zweiten Aspekt räumlicher Skalen hilft die Metapher des Parfümeurs weiter: Um an den essenziellen Teil einer Pflanze zu gelangen, muss der ursprüngliche Geruchs- oder Geschmacksträger zerstört werden. Die Lavendelblüte muss getrocknet, aufgelöst, zerkocht, gehäckselt oder in anderer Weise verarbeitet werden, um die Essenz zu extrahieren. Ist der Prozess der Dekomposition und Extraktion vielleicht auch in der Fotografie der Königsweg, um an die Essenz der Landschaft zu gelangen? Muss man in die Makrowelt absteigen? Oder ist die Metapher irreführend? Ein wenig von beidem, meine ich.
Ein besonderes Element zu extrahieren, wie das Duftöl aus dem Lavendel, ist nur eine Möglichkeit, mit dem Konzept der Essenz in der Landschaftsfotografie umzugehen. Lavendel hat noch eine Reihe weiterer Charakteristika, wie die Farbe der Blüten, die Ästhetik seines Wuchses, die Arrangements der Plantagen und sogar die Einbettung in das Ökosystem, in dem er wächst. Ist man also kein Parfümeur, sondern Fotograf, besteht keine zwingende Notwendigkeit, sich auf ein Element zu fokussieren. Man kann sich auf andere Bestandteile konzentrieren oder unterschiedliche Elemente kombinieren. Insbesondere in der Kombination mehrerer charakteristischer Elemente, die sich gut in einer Weitwinkelaufnahme realisieren lässt, liegt eine wesentliche Chance des Essenzkonzepts. 
Dennoch breche ich hiermit eine Lanze dafür, es nicht bei einer »Alles-Muss-Rein-Weitwinkel-Aufnahme« zu belassen, sondern mit unterschiedlichen Blickwinkeln und Skalen zu spielen. Dies kann auf der einen Seite bedeuten, das Weitwinkel noch weiter auszureizen und beispielsweise mit einer ultraweiten Aufnahme oder einem Panorama die Dimension eines Ortes zu betonen. Die andere Richtung, also Tele- und Makroobjektiv, erweist sich in Bezug auf die Essenz als noch wertvoller, weil sie mehrere bereits erwähnte Aspekte aufgreift: Der Einsatz von Tele- und Makrooptiken ermöglicht Bilder, die den Himmel ausschließen und besondere Perspektiven aufzeigen. Fast jeder Ort auf der Welt setzt sich aus kleineren Elementen zusammen, die sich fortwährend wiederholen, seien es Linien im Sand in den Dünen, Flechten und Moose auf jedem Granitfelsen bis zum Horizont oder Tautropfen auf der Borke eines Baumes, der den Charakter eines Regenwaldes symbolisieren kann. Diese intimen Porträts sind in mehrerlei Hinsicht sehr gut geeignet, die Essenz einer Landschaft abzubilden: Sie erlauben klug konzipierte Bilderserien, die sehr tiefe Einblicke in die Seele und die Rohmaterialien eines Ortes geben; zugleich sind sie ideal, um Subjektivität und Individualität in das Projekt einfließen zu lassen.

Essenz und Schönheit – Kunst oder Abbild?

In Anbetracht all dessen, was ich bisher ausgeführt habe, könnte man den Eindruck gewinnen, dass der Versuch, die Essenz einer Landschaft abzubilden, eher ein Prozess der Dokumentation ist. Abwägen, selektieren, dekonstruieren, rekombinieren – eher Wissenschaft als Kunst. Bis zu einem gewissen Grad ist das sicher korrekt. Doch wie bereits gezeigt, hat Subjektivität durchaus ihren Platz im Konzept der Essenz: Fotografien kommunizieren Bilder bestimmter Orte, wobei sie damit nicht nur Informationen vom Fotografen zum Betrachter transferieren, sondern Teil eines Kreislaufes sind. Debatten und Bilder über Orte prägen Bilder im Kopf – auch im Kopf des Fotografen, der die Essenz einer Landschaft sucht. Durch die eigene Arbeit reflektiert er oder sie auch diese gesellschaftlichen Bilder und legt seine eigene Perspektive darauf offen, was charakteristisch oder typisch ist. Essenz kann dabei sehr persönlich werden und damit auch die Wahl der Ausdrucksmittel: Der Prozess der Erschaffung eines Fotos ist und bleibt ein kreativer Prozess und was zunächst wie ein Korsett wirkt, nämlich sich auf eine Mission wie das Einfangen der Essenz einer Landschaft zu begeben, lässt genug Luft für künstlerische Entfaltung und kann sogar als Inspiration wirken. Essenz und Schönheit, beziehungsweise Abbilden von Essenz und künstlerisches Wirken haben keine kausale Verbindung, stellen aber auch keinen Widerspruch dar. Das Schöne und das Essenzielle verbinden – das wäre doch eine Herausforderung für das nächste Projekt, oder?

Abstrakt und reduziert – fotografische Techniken

Der künstlerische Weg lässt sich im Übrigen noch auf eine andere Weise legitimieren. In einer der drei eingangs angeführten Definitionen hieß es, Essenz könne die intrinsische, abstrakte Natur oder Qualität von etwas bedeuten. Für uns Fotografen kann das Wort »abstrakt« als Aufforderung dienen, künstlerische Techniken der Abstraktion einzusetzen. Zwei Beispiele sollen ein erster Aufschlag für einen Werkzeugkasten für die »essenzialistische Landschaftsfotografie« sein:

Bewusstes Komponieren | Ich habe einige Beispiele erwähnt, die auf das hohe Potenzial von bewusster Komposition für das Ansinnen, die Essenz eines Ortes abzubilden, verweisen. Es gibt jedoch keinerlei Gebote und Verbote in diesem Zusammenhang: Führen Sie sich vor Augen, was ich im Abschnitt über Skalen geschrieben habe, und assoziieren Sie mit Komposition nicht nur klassische Regeln wie den Goldenen Schnitt, sondern bedenken Sie auch, welche Auswirkungen die Selektion einzelner Elemente und der Ausschluss anderer auf das Bild hat, das sie damit von der Landschaft zeichnen. Denken Sie daran, wie groß einzelne Elemente sein sollten und wie sich der Leerraum sinnvoll einsetzen lässt, um die Einzigartigkeit von Elementen zu betonen. Denken Sie nicht nur daran, einzelne Elemente möglichst kunstvoll und visuell anregend zu präsentieren, sondern auch in einer Art und Weise, die das Charakteristische hervorkehrt. 

Lange Belichtungszeiten | Das Tolle an Langzeitbelichtungen ist, dass sie eine einfache Möglichkeit zur Vereinfachung eines Bildes darstellen und damit spezielle Bildelemente betonen können. Sie erlauben es dem Fotografen zudem, Zeitlichkeit und Bewegung zu visualisieren, was ein integraler Bestandteil dessen sein könnte, was als essenziell identifiziert wurde – beispielsweise die Bewegung und Kraft, mit der Wellen ununterbrochen an eine Felsenküste schlagen. Gelingt es, diese Bewegung und Kraft einzufangen, hat man ein Bild geschaffen, das deutlich besser die Essenz dieses Küstenstreifens transportiert. Diese Herangehensweise kann auf andere Motivbereiche übertragen werden, etwa fallende Blätter oder Schneeflocken. Entscheidend ist, dass nicht nur statische Elemente Teil dessen sein können, was eine Landschaft ausmacht, sondern auch die veränderlichen.

Weniger auf die Visualisierung von Bewegung als auf die Vereinfachung war ich aus, als ich eine Langzeitbelichtung in meinem Foto »Three« einsetzte. Belichtet man für längere Zeit, eher Minuten als Sekunden, verschwinden jegliche Anzeichen von Bewegung und Elemente, die sich nicht bewegen, werden in Vordergrund gerückt. »Three« nahm ich an einem frühen Wintermorgen in Nord-Norwegen auf. Der Himmel war bedeckt und der viele Schnee ließ jedes Geräusch verstummen. Ich saß für eine halbe Stunde auf einem alten Holzsteg und genoss die Stille, die so zu einem untrennbaren Teil der Szenerie vor mir wurde. Daher beschloss ich, diese Stille durch eine sehr lange Belichtung zu betonen und setzte einen 6-Blendenstufen-Graufilter ein. Die resultierende Belichtungszeit von drei Minuten eliminierte jede Bewegung im Wasser und kreierte eine ruhige, traumartige Atmosphäre. Das Bild ist für mich ein Fragment der Essenz des Winters im hohen Norden.

Dies war nur ein kleiner Einblick in die Palette an Methoden und Werkzeugen, die Landschaftsfotografen zur Verfügung stehen, nachdem er oder sie sich Gedanken über die Gestaltung eines Fotos gemacht hat. Es gibt viele weitere, von Mehrfachbelichtung als weiteres Abstraktionsmittel über High-Key- und Low-Key-Aufnahmen bis zu Panoramaaufnahmen, die noch andere Blickwinkel ermöglichen als Einzelbildaufnahmen. Quasi alle können im Zusammenhang mit Gedanken über die Essenz einer Landschaft eingesetzt werden, ebenso können alle auch ohne diese Verbindung genutzt werden. Der hier skizzierte Blickwinkel der Essenz ist für Sie hoffentlich ebenso ein Denkanstoß wie für mich, sich über die Gestaltung und Konzeption der Fotos tiefergehende Gedanken zu machen. Denn Landschaftsfotografie ist Sehen, Denken, Fühlen und Erschaffen zugleich!

Jan Zwilling
… wuchs in und um Berlin auf und entdeckte auf einer Kanada-Reise im Jahr 2010 seine Leidenschaft für die Natur- und Landschaftsfotografie, die er heute neben­beruflich betreibt. Ihn zieht es häufig in den Norden, 
in die Wälder und in einsame Bergwelten. | www.paradise-found-photo.com