Einer meiner Lieblingsorte auf unserem Planeten liegt in der kanadischen Provinz Manitoba, denn hier ist eine der größten Eisbären-Ansammlungen der Arktis zu beobachten. Die Kleinstadt Churchill, ein alter Handelsposten am Rande der Hudson Bay, mit weniger als tausend Einwohnern, ist als »Eisbärenhauptstadt der Welt« bekannt. Und in welcher anderen Stadt gibt es schon ein Gefängnis, das für verhaltensauffällige Eisbären vorgesehen ist?
Im Spätherbst 2014 unternahm ich meine erste Reise nach Churchill, um Eisbären in ihrer natürlichen Umgebung zu fotografieren. Diese Jahreszeit ist großartig, um zu beobachten, wie sich Eisbären an der Hudson Bay versammeln und darauf warten, dass sich tragfähiges Meereis bildet, auf dem sie ihre Hauptnahrung, die Ringelrobben, jagen können. Die männlichen Eisbären verbringen die Wartezeit unter anderem damit, passende Sparringspartner zu finden – Bären gleichen Alters und gleicher Größe –, mit denen sie ringen und ihre Kampffähigkeiten trainieren können. Denn irgendwann in der Zukunft muss ein Eisbär während der Paarungszeit mit Rivalen um eine Bärin kämpfen. Mithilfe dieser Schein- oder Trainingskämpfe können Eisbären üben, ohne dabei ernsthafte Verletzungen zu riskieren.
Eisbärenkinderstube
Im August oder September graben trächtige Eisbärenweibchen im Gebiet des südlich von Churchill gelegenen Wapusk-Nationalparks eine sogenannte Geburts- oder Wurfhöhle, die sie mit Schnee verschließen. Einige Zeit später, um die Weihnachtszeit, bringen sie dort ihre Jungen, meist Zwillinge, zur Welt. »Einzelkinder« oder Drillinge sind seltene Ausnahmen. Die kleinen Eisbären wiegen bei ihrer Geburt etwa 500 Gramm. Während der ersten Wochen bleiben sie mit ihrer Mutter in der Höhle, wo sie dank der fettreichen Milch rasch zunehmen. Wenn sie ungefähr acht bis zehn Wochen alt sind und 10 bis 15 Kilogramm wiegen, verlässt die kleine Familie die Höhle und die Jungen erblicken zum ersten Mal die Weite der kanadischen Tundra. In den nächsten Tagen bleiben sie tagsüber in der Nähe der Höhle und während die Jungen ihre neue Umgebung erkunden, behält die Eisbärin sie stets im Auge. Zum Schlafen kehrt die Familie in die Höhle zurück. Nach der anstrengenden Schwangerschaft und Geburt befindet sich die Bärin nach wie vor in der kräftezehrenden Stillzeit. Sie hat seit Monaten nichts mehr gefressen. Die Zeit drängt. Sie muss zur Hudson Bay, um Robben zu erlegen.
Zur rechten Zeit vor Ort
Ein beeindruckendes Foto einer Eisbärin mit ihren Jungen, das ich in Churchill gesehen hatte, weckte den großen Wunsch, zur passenden Jahreszeit in die kanadische Arktis zurückzukehren. Mittlerweile war ich zweimal im Spätwinter im Norden von Manitoba. Dort konnte ich die Eisbären-Mütter beobachten, sah, wie sich die Jungen an die Welt außerhalb der Höhle und an den arttypischen sozialen Umgang gewöhnten, bevor sie schließlich zur Hudson Bay aufbrachen. Da ich die erwachsenen Eisbären im Herbst und die sehr jungen Eisbären im Spätwinter gesehen habe, war ich beeindruckt, wie früh das instinktive Kampfverhalten der kleinen Eisbären beginnt und sich so die Grundzüge des Verhaltens erwachsener Bären schon früh auch bei den Jungen erkennen lassen.
Die meisten Eisbärenfamilien, die ich sah, bestanden aus einer Bärin mit zwei rund zwei bis drei Monate alten Zwillingen. Eisbärenmütter agieren sehr fürsorglich und äußerst beschützend. Es sind nicht nur das Wetter und die Wanderung zur Hudson Bay, die für die kleinen Eisbären eine Gefahr darstellen, sondern auch Wölfe, die versuchen können, ein Junges von seiner Mutter zu trennen. Ich sah, wie die Jungen »kämpfen« lernten. Natürlich sind diese putzigen Eisbärchen noch weit von dem mächtigen, an der Spitze der arktischen Nahrungspyramide stehenden Raubtier entfernt, zu dem sie sich einmal entwickeln, sollten sie das Erwachsenenalter erreichen. Zunächst werden sie mehr als zwei Jahre bei ihrer Mutter bleiben und lernen sich zu verteidigen, zu schwimmen und zu jagen, bevor die Mutter sie vertreibt, damit sie dann ein eigenständiges Leben beginnen.
Der Überschwang der kleinen Jungbären ist herzerwärmend. Mama ist natürlich müde und hungrig, aber die Jungen, die von ihrer fettreichen Milch leben, haben die unermüdliche Energie und Neugier, wie wir sie überall auf der Welt von Kleinkindern kennen. Während die Jungen spielen, ringen, trinken und schlafen, versucht die Mutter ihre Energie für die Wanderung zur Hudson Bay aufzusparen, selbst wenn ihre Jungen sie gerne als »haariges Klettergerüst« nutzen. Erwachsene Eisbären können sich eine bis zu elf Zentimeter dicke Schicht aus subdermalem Fett anfressen. Dies dient zum einen als Wärmeisolierung und zum anderen als Futterreserve. Selbst nach mehrmonatigem Fasten kann die Eisbärin die Kälte viel besser bewältigen als ihre Jungen. Wenn die Schneestürme über die Tundra hinwegfegen, zieht sich die Eisbärenfamilie entweder in eine Tageshöhle zurück, wie etwa eine vom Wind gebildete Mulde im Schnee, oder die Eisbären-Mama bietet mit ihrem mächtigen Körper die entsprechende Zuflucht. Ihre Jungen schlüpfen bei ihr unter und schmiegen sich eng an, um Wärme und Schutz zu finden
Die Wanderung
Und bald beginnt die Reise. Die etwa 70 Kilometer lange Wanderung bis zur Hudson Bay kann viele Tage dauern, da sich die kleinen Eisbären immer wieder ausruhen müssen. In manchen Jahren durchzieht – begleitet von Wölfen und Polarfüchsen – eine riesige Karibu-Herde das Geburtshöhlen-Gebiet. Die Wölfe reißen die schwächsten Mitglieder der Herde und die Polarfüchse wiederum versuchen, sich von dem zu ernähren, was sie von den Wölfen ergattern können. Ein Wolf ist einem erwachsenen Eisbären hoffnungslos unterlegen. Selbst ein Wolfsrudel greift einen ausgewachsenen Bären nur an, wenn es keine Alternativen gibt. Für eine hungrige und müde Mutterbärin aber ist es schwierig, zwei Jungtiere vor einem anhaltenden und koordinierten Wolfsangriff zu schützen.
Nur 50 Prozent der Eisbärenjungen erreichen das Erwachsenenalter. Die globale Erderwärmung beeinträchtigt zusätzlich die Möglichkeit der Bären, Nahrung zu finden. Das Eis schmilzt früher im Frühjahr und bildet sich später im Herbst. Eisbären aber sind auf das Eis angewiesen. Dort jagen sie. Häufig warten sie in der Nähe von Luftlöchern, um ahnungslose Robben zu schlagen, sobald diese auftauchen, um Atem zu holen. Es ist ein aus menschlicher Sicht unwirtliches und unbarmherziges Umfeld, in dem die jungen Eisbären aufwachsen. Die aufopferungsvolle Fürsorge der Bärin in den ersten Lebensjahren ist unerlässlich, um den Kleinen einen bestmöglichen Start ins Leben zu ermöglichen.