Schwarmkunst


Vom »Murmeln« der Stare

von: Dr. Kathryn Cooper
Chronofotografie ist eine bereits Ende des  19. Jahrhunderts eingesetzte Technik, um Bewe­gungen in Fotos festzuhalten. Kathryn Cooper,  Physikerin mit einem Doktortitel in Bio­informatik, hat das Prinzip der alten Technik für digitale  Kameras adaptiert und fängt so in ihren Bildern  das »Murmeln« der Stare ein, das faszinierende Schwarmverhalten dieser Vogelart. Dabei entstehen Bilder, die besser als »normale« Fotos das  kom­plexe, in bemerkenswerter Weise koordinierte  Verhalten der Tiere veranschaulichen und  gleich­zeitig von großem ästhetischen Reiz sind. 

Das »Murmeln« der Stare ist ein bezaubernder Tanz, der von Tausenden, zuweilen gar Hunderttausenden von Vögeln aufgeführt wird, die sich bewegen, als wären sie eins. In Reaktionen auf die Umgebung verändert dieses Schwarmwesen ständig seine Form. Viele Vögel zeigen Schwarmverhalten, aber nur Stare »murmeln«. Dieses Phänomen ruft starke Emotionen hervor: Ehrfurcht, Neugier und vielleicht sogar ein wenig Angst. Ich habe die letzten sieben Jahre damit verbracht, Starenschwärme zu fotografieren. Die Stare ziehen im Winter aus dem Norden Europas ins Vereinigte Königreich und versammeln sich in großer Zahl an historischen Schlafplätzen im ganzen Land. Von November bis März ziehen sie Scharen von faszinierten Besuchern an.
Tagsüber verteilen sich die Vögel auf den umliegenden Feldern, um zu fressen, und kehren dann kurz vor Einbruch der Dunkelheit in kleinen Schwärmen zurück, die sich dann zu immer größeren Gruppen zusammenschließen und entlang von Fluglinien zum Schlafplatz fliegen.

Wenn Sie Glück haben, können Sie in der Abenddämmerung Stare beobachten, die über ihrem Schlafplatz »murmeln«. Ihre fantastischen Flugvorführungen wirken wie eine Choreographie, bei der sich immer neue Muster am Himmel bilden und wieder auflösen. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus, wenn ich Hunderttausende von Individuen sehe, die sich mit solcher Geschlossenheit bewegen. Die Vögel stoßen weder zusammen noch zerstreuen sie sich, sie vermeiden mühelos Hindernisse und weichen Greifvögeln aus. Wenn sie über uns hinwegfliegen, erfüllen sie die Luft mit einem erstaunlichen Lärm. Die Luft vibriert. 

Geflügelte Landschaften

Das ist nicht nur visuell atemberaubend, sondern berührt auch alle anderen Sinne. Ich fotografiere an Schlafplätzen in der Nähe meiner Heimat im Norden Englands. Hier schlafen die Vögel, umgeben von Wasser, in hohem Schilf.  Manchmal kommen sie in kleinen Gruppen an und tauchen direkt in das Schilf ein, wobei ihr lautstarkes, schwirrendes »Gequassel« später eintreffende Gruppen an den Schlafplatz lockt. Ein anderes Mal versammeln sich unzählige Stare am Himmel und der Schwarm erstreckt sich bis zum Horizont. Am Himmel lassen sie seltsame, schleierartige und sich wellenförmig bewegende Landschaften entstehen, bis sich der Schwarm dann nach Einbruch der Dunkelheit ins Schilf stürzt.

Vermeintlich leichte Beute

Sperber und Wanderfalken jagen die kleinen Vögel und stürzen sich in die wirbelnde Masse, um manchmal kurz darauf mit einem Vogel in ihren Krallen wieder aufzutauchen. Trotz ihrer großen Anzahl sind Stare keine leichte Beute. Die meisten Greifvögel konzentrieren sich bei der Jagd auf ein einziges Ziel. Sie versuchen daher, Vögel an den Rändern der Schwärme zu erbeuten, aber die ständige Bewegung, der Wechsel der Dichte und die Drehungen und Wendungen des Schwarms sind visuell verwirrend. Befinden sich Greifvögel in der Nähe, neigen die Stare dazu, größere Gruppen zu bilden, länger zu »murmeln« und sich dann gemeinsam in die Sicherheit des Schlafplatzes zu begeben.

Mit dem Starenschwarm hat die Natur ein gegen Fressfeinde in hohem Maße resistentes System entwickelt. Viele Augen achten auf Angriffe und das Risiko wird auf den gesamten Schwarm verteilt. Bemerkenswerterweise gelingt dies ohne jegliche Führungsstruktur, da die einfachen Interaktionen zwischen den Individuen Ergebnisse hervorbringen, die effektiver sind als die Summe ihrer Teile.

Einfache Regeln

Unabhängig davon, ob der Schwarm groß oder klein ist, erklären ein paar einfache Regeln einen Großteil des zu beobachtenden Verhaltens. Jeder Vogel reagiert nur auf die wenigen Vögel in seinem direkten Umfeld und sorgt dafür, dass er mit der gleichen Geschwindigkeit und in die gleiche Richtung fliegt wie seine Nachbarn, wobei er Kollisionen vermeidet. Ändert ein Vogel die Richtung, um beispielsweise dem Angriff eines Falken auszuweichen, tun dies auch die Vögel um ihn herum. Ihre Nachbarn drehen einen Sekundenbruchteil später ab und so weiter, wodurch eine Welle von Informationen durch den Schwarm wandert. Skaliert man diese einfachen lokalen Regeln hoch, ergeben sich die komplexen und scheinbar koordinierten Bewegungen des »Murmelns«. Diese Selbstorganisation ist von entscheidender Bedeutung, wenn der Schwarm unter Druck durch Raubtiere steht. Ein Schwarm wird nur selten getrennt und Nachzügler stoßen schnell wieder zur Gruppe. Selbst bei starkem Wind kämpfen die Vögel darum, eine geschlossene Form beizubehalten, indem sie Schleifen, Drehungen und Spiralen am Himmel bilden.

Die Stare haben optimiert, wie viele Informationen sie von ihren Nachbarn im Schwarm aufnehmen. Sie orientieren sich lediglich an den sechs oder sieben Vögeln, die ihnen am nächsten sind. Würden sie mehr Nachbarn berücksichtigen, könnten sie nicht schnell genug auf Bedrohungen reagieren, weniger wäre hingegen keine ausreichende Basis für sinnvolle Entscheidungen.

Ich bin beileibe nicht der erste Mensch, der von diesen Vögeln fasziniert ist. Seit Hunderten von Jah­ren haben viele über ihre bemerkenswerte Synchronität nachgedacht. Starenschwärme sind heutzutage beliebte Fotomotive und besonders attrak­tiv sind Bilder in Verbindung mit majestätischen Sonnenuntergängen. Gerne werden solche Schwarmbilder in Form eines Wals, eines Igels oder eines riesigen Vogels dann auch in unterschiedlichen Medien veröffentlicht.

Das Wesen des »Murmelns«

Obwohl viele dieser Bilder zweifellos reizvoll sind, hatte ich das Gefühl, dass es noch kreativen Spielraum gibt, um die Substanz, das Wesen des »Murmelns« zu vermitteln. Wie kommt es, dass ein Starenschwarm so starke Emotionen hervorruft? Ich habe darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es nicht die einzelnen Vögel sind, auch nicht eine Momentaufnahme, sondern die fließende Bewegung des Schwarms als Ganzes, das Produkt ihrer Interaktionen.

Ich erstelle meine Bilder, indem ich mehrere aufeinanderfolgende Belichtungen kombiniere. Sie werden dann zu einer einzigen Datei überlagert, um so Bewegungen und Verhaltensweisen sichtbar zu machen, die sonst verborgen wären. Einige sind aus Hunderten von aufeinander­folgenden Aufnahmen zusammengesetzt, andere lediglich aus einer Handvoll.

Chronofotografie

Die Technik selbst hat ihre Wurzeln in der Frühzeit der Fotografie. Sie wurde Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt und damals als Chronofotografie bezeichnet (Chronos ist in der griechischen Mythologie die Personifizierung der Zeit). Der britisch-amerikanische Fotograf Eadweard Muy­bridge und der französische Wissenschaftler Étienne-Jules Marey waren die ersten, die das Konzept der Dekonstruktion von Bewegung in dieser Form entwickelten. Beide waren fasziniert von der Mechanik menschlicher und tierischer Bewegungen, ins­besondere vom Vogelflug. In einer Zeit, in der sich Wissenschaft und Kunst mit Fortbewegung und Dynamik beschäftigten, hatten ihre Fortschritte in der Fotografie großen Einfluss auf entsprechende Innovationen in den nachfolgenden Jahrzehnten.

Grundsätzlich gilt für meine Fotografie, dass die Neugierde und nicht das Ergebnis den Prozess bestimmen muss. Auch wenn die Digitaltechnik vieles erleichtert, vergeht von der Aufnahme des Materials bis zum fertigen Bild eine längere Zeit. Oft sehe ich die Ergebnisse meiner Arbeit erst, wenn die Stare schon längst in ihre nördlichen Brutgebiete zurückgekehrt sind. Das erfordert Geduld und eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit der Un­gewissheit, die heutzutage, wo man es gewohnt ist, sofortige Befriedigung zu erfahren, oft fehlt. Meine Belohnung finde ich im uneingeschränkten Erforschen der Technik, der tierischen Motive und meines eigenen Ausdrucks.

Komplexe Ordnung

Es fasziniert mich, jenen Mechanismus auf den Grund zu gehen, der diese vergänglichen, ätherischen Formen für uns so unwiderstehlich macht. Die Formen, die mir die Stare präsentieren, kann ich in keiner Weise beeinflussen, kann später lediglich diejenigen von besonderer ästhetischer Schönheit auswählen – und die Vögel liefern mir immer wieder neue.

Wir fühlen uns zu Bildern hingezogen, die ein Gleichgewicht zwischen Komplexität und Ordnung aufweisen, mit genau der richtigen Menge an sensorischen Informationen – reichhaltig, aber nicht überwältigend. Das Zusammenfassen von Bewegungsfragmenten in einem einzigen Bild ermöglicht es uns, sowohl das Ausmaß der in sich geschlossenen Bewegung zu würdigen, als auch komplexe Details zu untersuchen, die sonst vielleicht unbemerkt blieben.

Mein Auge wird von Mustern und sich wiederholenden Formen in diesen Bildern angezogen. Das menschliche Gehirn ist darauf programmiert, nach diesen Formen zu suchen, denn sie ermöglichen es uns, Informationen effizient zu verarbeiten und eine Welt zu verstehen, die unsicher und chaotisch erscheinen kann. Dieser Ordnungssinn deutet darauf hin, dass die Komplexität um uns herum von bestimmten Prinzipien bestimmt wird.

Nahezu vollkommen

Dabei komme ich nicht umhin, einen Vergleich zu anderen Mustern zu ziehen, wie sie in der Natur reichlich vorhanden sind. Fraktale Muster wie Farne und Schnee­flocken, die logarithmischen Spiralen von Schnecken und die in Flüssigkeiten und Gasen gebildeten Wirbel. Das bemerkenswerte sechseckige Muster von Schnee­flocken entsteht durch einen denkbar einfachen Prozess – das Gefrieren von Wasserdampf. Wenn eine Schneeflocke wächst, behält jeder Zweig die gleiche Grundform, aber mit einer Variation, die dafür sorgt, dass keine Flocke einer anderen gleicht. Aus der Einfachheit schafft die Natur ein unglaublich komplexes, detailliertes und schönes Muster.

Die Wirbel und Spiralen, die man in Wirbelstürmen, Tannenzapfen und Blumen sieht, werden von der Fibonacci-Folge bestimmt, einer Zahlenreihe, bei der sich die jeweils folgende Zahl durch Addition ihrer beiden vorherigen Zahlen ergibt. Obwohl sie sich mathematisch beschreiben lassen, sind diese Strukturen unvollkommen. Die Anordnung von Blütenblättern vieler Blumen folgt zwar einer Fibonacci-Spirale, die einzelnen Blätter aber variieren leicht in Form und Größe. Es gibt also eine rhythmische Wiederholung und trotzdem eine Vielfalt, und wir finden dies sowohl fesselnd als auch beruhigend.

Außergewöhnliche, sich wiederholende Wirbel, die als »Kármánsche-Wirbelstraße« bezeichnet werden, entstehen, wenn die Strömung einer Flüssigkeit oder eines Gases um ein Hindernis herum eine alternierende Kette gegenläufiger Spiralwirbel erzeugt. Sie sind oft auf Satellitenbildern von Wolkenformationen zu sehen, wo sich diese Muster in enormem Ausmaß in der Windströmung von Inseln bilden.

Auch in den Bahnen, die die Stare mit ihren Drehungen, Spiralen und Ausbrüchen ziehen, gibt es einen Rhythmus, eine unvollkommene Wiederholung in der Komplexität, die sich aus der Einfachheit ihrer Interaktionen ergibt. Die Natur hat eine grandiose Fähigkeit, Probleme zu lösen, und gleichzeitig gelingt es ihr immer wieder – ohne zu planen – etwas ganz Besonderes hervorzubringen.

Dr. Kathryn Cooper
… ist Wissenschaftlerin und Fotografin, die sich für die Schönheit komplexer natürlicher Systeme interessiert. Mit ihrem Schwerpunkt in Physik und Bioinformatik widmete sie ihre frühe Karriere der Entwicklung bildgebender Verfahren in der Krebs­forschung. Ihre Arbeit über Starenschwärme wurde weltweit  ausgezeichnet, u. a. bei den Sony World Photography Awards, beim Bird Photographer of the Year, beim Festival de L'Oiseau  et de la Nature und den British Photography Awards. 
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