Estland


Kleines Land – Große Natur

von: Gunther Willinger
In Estland, dem nördlichsten der drei baltischen Staaten, finden sich auf kleinem Raum eine gute Infrastruktur und vielfältige, menschenleere Landschaften. Gunther Willinger hat das Land zusammen mit seiner Familie besucht und hatte natürlich auch seine Kamera dabei.

Estland ist im Norden und Westen von der Ostsee umgeben. Im Süden grenzt es an Lettland und im Osten an Russland. Rund die Hälfte des Landes ist von Wäldern bedeckt, welche von Birken, Kiefern und Fichten dominiert werden. Aber auch Pappeln, Eichen, Ebereschen und andere Laubbäume finden sich dort. Neben den Wäldern bestimmen unzählige Moore, Seen und Flüsse das Landschaftsbild und hunderte kleine und größere Inseln zieren die Küste wie Sommersprossen. Die größten dieser Inseln sind Saaremaa und Hiiumaa. Durften sie zur Sowjetzeit nur mit Sondergenehmigung betreten werden, sind sie heute durch Fährverbindungen erschlossen. 

Die Natur im Baltikum ist wilder als man das von weiten Teilen Westeuropas gewohnt ist. Estland punktet zusätzlich mit einer besonders guten Infrastruktur für naturbegeisterte Touristen. Dabei ist das Angebot der staatlichen Forstverwaltung RMK hervorzuheben: Infozentren, Wanderkarten, Broschüren, Aussichtstürme, Beobachtungshütten und vor allem die aufwendig angelegten und gut ausgeschilderten Wege und Wanderrouten erleichtern die Erkundung des Landes. Wer mit Campingausrüstung unterwegs ist, findet zudem immer wieder schön gelegene kleine Rastplätze mit einer Feuerstelle, Holz und überdachten Sitzplätzen, an denen man übernachten kann. Auch die Tatsache, dass man praktisch überall im Land sehr guten Mobilfunkempfang und Zugang zum Internet hat, erleichtert das Reisen.

Zwischenstopp an der Biebrza

Essen und Übernachtungspreise sind deutlich günstiger als etwa in Skandinavien, und ist man erst einmal im Land, sind die Entfernungen zwischen interessanten Orten überschaubar. Die Reise bis in den baltischen Nordosten Europas ist da schon eher ein Hindernis. Je nach Startpunkt muss man von Deutschland aus mit ca. 20 Stunden Autofahrt rechnen. Dafür hält sich der Verkehr, spätestens wenn man Warschau passiert hat, in Grenzen. Für einen Zwischenstopp bietet sich der Nordosten Polens an, der mit seinen Nationalparks Narew und Biebrza oder dem Gebiet der Masurischen Seenplatte sicher selbst eine längere Reise wert ist. Wir haben zwei Nächte an der Biebrza verbracht und wurden gleich am ersten Tag mit einer Elchsichtung belohnt. Auch Litauen und Lettland bieten sich für Zwischenstopps und Erkundungen an. Eine andere Möglichkeit ist es, einen Teil der Strecke per Fähre auf der Ostsee zurückzulegen, was sich insbesondere für Reisende aus Norddeutschland anbietet. So kann man mit der Autofähre in etwa 20 Stunden von Kiel nach Klaipeda in Litauen fahren. Von dort sind es mit dem PKW weitere fünf bis sechs Stunden durch Litauen und Lettland bis in den Süden Estlands. 

Mit 45.000 Quadratkilometern Fläche ist Estland etwas kleiner als Niedersachsen, allerdings ist es mit rund 1,3 Millionen Menschen sechs Mal dünner besiedelt als Niedersachsen mit seinen acht Millionen Einwohnern. 

Estnische Vielfalt

Das kleine Land bietet viele besondere Möglichkeiten zur Naturbeobachtung – und das zu jeder Jahreszeit. Bären, Wölfe und Luchse streifen durch einen Teil der Wälder, possierliche Gleithörnchen schweben mit aufgespannten Flughäuten von Baum zu Baum, Sümpfe und Moore beherbergen typische Pflanzen wie Sonnentau und Torfmoose, und auf den Feuchtwiesen und Kalkmagerrasen der Küstengebiete und Inseln wachsen seltene Orchideen und andere Wildblumen. Auch ornithologisch gibt es viel zu sehen: Im Frühjahr und Herbst ziehen Millionen Zugvögel durch Estland und im Winter tummeln sich viele Arten aus dem Hohen Norden  wie Scheck- oder Eisenten vor der Küste. Hinzu kommen zahlreiche Arten, die in Estland das ganze Jahr über angetroffen werden können. Dazu gehören Habichts- und Sperlingskauz, Weißrücken- und Dreizehenspecht, Kiefernkreuzschnabel, See- und Schreiadler. Raufußhühner wie Auer-, Birk- und Haselhuhn lieben die lichten nordischen Wälder mit vielen Beerensträuchern im Unterwuchs. 

Um besondere Arten aufzuspüren, braucht es trotzdem Ortskenntnis, Erfahrung und Geduld, sodass es sich bei begrenztem Zeitbudget empfiehlt, auf die Dienste spezialisierter Reiseveranstalter zurückzu­greifen. So haben wir in unserem dreiwöchigen, spätsommerlichen Familien­urlaub ein Angebot des estnischen Veranstalters NaTourEst für zwei Nächte in einer Bärenhütte genutzt. Die Kommunikation im Vorfeld verlief ohne Probleme per E-Mail (auf Englisch). Alle Fragen wurden geduldig beantwortet, auch die kritischen zur Naturverträglichkeit des Bärentourismus in Estland. Die Bären in den betreffenden Waldgebieten im Nordosten Estlands werden seit Jahren – meist mit Fischköpfen – angefüttert, sodass sie diese Stellen zwar regelmäßig auf ihren Streifzügen ansteuern, aber nicht von der Zufütterung abhängig sind. NaTourEst beteiligt sich an verschiedenen Artenschutzprojekten sowie an der Inventarisierung und dem Schutz wertvoller Waldgebiete. Mehr dazu auf der Webseite des Veranstalters (Link s.u.). Eine deutschsprachige Alternative wäre z. B. der bei Freiburg ansässige Naturreiseveranstalter birdingtours, der mit NaTourEst kooperiert. 

Bei den Bären

Praktisch läuft die Nacht in der Bärenhütte dann folgendermaßen ab: Der Treffpunkt im Wald wird in Form von GPS-Daten vorab zugesandt. Dort kann man dann das Auto stehenlassen und wird von einem Guide zu Fuß etwa zwei Kilometer zum Beobachtungsversteck geleitet. Die beiden Hütten sind relativ geräumig, mit Stockbetten und einer Komposttoilette ausgestattet, und da wir als Familie zu viert waren, hatten wir ein ganzes »Abteil« für uns. Das Beste an der Hütte ist aber, dass sie den Blick in zwei Richtungen gestattet, also auf beiden Seiten Beobachtungsfenster hat. Einmal blickt man in einen Birken-Fichtenwald und auf der anderen Seite auf eine sehr schön von der Abendsonne beschienene Lichtung. So konnten wir mehrere Braunbären und Marderhunde hautnah erleben. Besonderes Glück hatten wir am ersten Abend, als kurz vor Einbruch der Dunkelheit eine Bärenmutter mit drei Jungen auftauchte. Ein unvergessliches Erlebnis! 

Moore und Meer

Neben den Bären und Marderhunden waren für uns die ausgedehnten und menschenleeren Moorlandschaften mit den umgebenden Birken- und Kiefernwäldern das Highlight der Reise. An vielen Stellen sind weitläufige Bohlenwege durch die Moore angelegt, teilweise mit eigens eingerichteten Badestellen, wo man bequem und ohne Schaden anzurichten in die kühlen Moorseen springen kann. In der Ufervegetation tummeln sich hunderte türkisblaue Libellen und im Wald lässt sich im Spätsommer das Abendessen mit Pilzen, Preisel- und Blaubeeren verfeinern. 
Aber auch an den Küsten sind immer wieder sehr schöne Wanderungen möglich – mit tollen Lichtstimmungen und großen, zum Klettern animierenden Findlingen. Die hübschen estnischen Holzhäuser, sowie kultur- und traditionsreiche Städte wie Tallinn oder Tartu bieten eine willkommene Abwechslung nach Tagen im Wald und Moor. 

Was man in Estland nicht findet, sind Berge. Ansonsten ist das kleine Land mit seinen freundlichen Menschen, den weiten Landschaften und der artenreichen Flora und Fauna gerade für Naturfotografen ein wunderbares Reiseziel. 

Weitere Infos

www.visitestonia.com 
www.natourest.ee 
www.loodusegakoos.ee/en

Gunther Willinger
…ist Biologe und arbeitet als Wissenschaftsjournalist und Fotograf. In den letzten Jahren hat er sich intensiv mit dem Thema Wald beschäftigt. Sein Buch »Wälder unserer Erde – Wie das Klima den Wald formt« ist im teNeues Verlag erschienen. Er lebt mit seiner Familie in Tübingen. www.guntherwillinger.de