Ngorongoro


Urzeitliches Afrika

von: Aaron Moser
Aaron Mosers Besuch im Ngorongoro-Krater am Rande der Serengeti in  Tansania offenbarte dem Fotografen und Filmemacher ein Afrika wie aus einer längst vergangenen Zeit. Eine hohe Biodiversität, eine erstaunliche Vielzahl  an Großsäugern und ein enger und vertrauensvoller Kontakt zu den hier  lebenden Massai machten seinen Aufenthalt zu einem intensiven Erlebnis.

Der Nebel hebt sich und die Landschaft entschleiert sich. Der Himmel, eben noch düster und glanzlos, wird blau. Ich stehe auf einem mächtigen Höhenkamm, der mit dichtem Pflanzengewirr bewachsen ist, und blicke in eine tiefe, ovale Kraterschüssel. Unter mir bilden Savannen, Sümpfe, Seen und Buschland ein fantastisches Biotop. Mittendrin zieht eine Gruppe von Elefanten über eine weite Grasebene. Ich brauche eine Weile, um zu erfassen, was ich da sehe. Zu fantastisch ist die riesige Kratersenke Ngorongoro, Inbegriff eines urzeitlichen Afrika. Schon der fremdartige Klang des Namens Ngorongoro, der sich von dem Massai-Wort El-Nkoronkoro ableiten lässt, was »Geschenk des Lebens« bedeutet, entspricht der Magie dieser einzigartigen Natur- und Tierwelt. 

Der weltgrößte Krater 

Ich befinde mich im Norden Tansanias. Vor zwei Tagen habe ich im Geländewagen die ostafrikanische Stadt Arusha verlassen, die 90 Kilometer südwestlich vom schneebedeckten Kilimandscharo liegt. Über Kisongo und Makuyuni bin ich in Richtung Nordwesten 180 Kilometer zu meinem ersehnten Zielort gekommen: dem Ngorongoro-Krater – am Rand der Serengeti.
In engen Serpentinen schlängelt sich die Piste den Vulkanberg hinauf. Dornige Zweige peitschen immer wieder gegen die Frontscheibe. Erst auf dem Höhenkamm verflüchtigt sich ein Grauschleier und bei klarer Sicht fahre ich ganz langsam die Kraterwand hinab – hinein in die größte Caldera der Welt, die seit 2010 zum Weltkulturerbe zählt.

Entstanden ist der Ngorongoro-Krater, der einen Fläche von 18 x 15 Kilometer umfasst, vor etwa zwei Millionen von Jahren, als ein gewaltiger Vulkanberg in sich zusammenstürzte. Rund um die riesige Kraterschüssel wurde 1959 die Ngorongoro Conservation Area gegründet, ein 8.292 Quadratkilometer großes Naturschutzgebiet, das inmitten des großen Ostafrikanischen Grabenbruchs liegt. Zentrum dieses einzigartigen Areals ist der Ngorongoro-Krater selbst, in dem etwa 25.000 Großsäuger leben. Zebras, Gnus, Kaffernbüffeln, Elefanten, Flusspferde und Thomson-Gazellen sind nur ein paar von ihnen. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es solch vielfältige Wildtieransammlungen. 

Erst schauen, dann fotgrafieren

Schon der deutsche Tiermediziner und Zoologe Bernhard Grzimek, der Ende der 1950er-Jahre die großen Tierwanderungen sowie das Verhalten der Wildtiere im afrikanischen Rift Valley erforschte, war vom Ngorongoro-Krater überwältigt: »Es ist unmöglich, in Worten die Größe und Schönheit des Kraters wiederzugeben. Er ist ein Weltwunder.« 
Auch ich bin tief beeindruckt. Die Flora ist hier von Grassavannen, Akazienbäumen und Wasserstellen geprägt. Die bis zu 600 Meter hohen Kraterwände, die in den blauen Himmel ragen, sind mit Wäldern, Buschwerk und Heidekraut bewachsen.

Ich kann kaum in Worte fassen, was ich um mich herum sehe – und lasse mir Zeit, ehe ich zur Kamera greife. Meine Fotoausrüstung ist reduziert auf das Wesentliche. Eine Lumix-Bridgekamera und ein Lumix-G-Body mit MFT-Sensor und zwei Objektive: ein Weitwinkel (12 - 35 mm) und ein Tele-Objektive (100 - 400 mm). Dazu ein leichtes Reisestativ und ein paar ND-Filter. Mehr brauche ich nicht. Dieses »Reduziertsein« ist für mich »die Kunst der sensiblen Wahrnehmung«, die ich beim subjektiven Sehen mit einer objektiven Fotografie zu verbinden versuche.
Ich lege weite Strecken zu Fuß zurück. Für ein außergewöhnliches Foto gehe ich gern so nah heran, wie es möglich ist. Immer dicht hinter mir: Ein Ranger des Nationalparks, der sein Gewehr fest im Griff hat und die Umgebung sorgfältig überwacht. Im Ngorongoro-Krater herrscht die höchste Raubtierdichte Afrikas. Menschen passen zwar nicht in deren typisches Beuteschema, trotzdem sollte man auf der Hut sein.

Überwältigende Vielfalt

Ich liebe bei der Fotoarbeit die Intensität des Erlebens, die mir ein wunderbares Glücksgefühl vermittelt. Mir geht es darum, die Magie einer Landschaft sichtbar zu machen. Eine immer neue Herausforderung, die gerade dann besonders groß ist, wenn die Eindrücke so facettenreich sind: Steppenzebras mit filigranem schwarzweißem Streifenmuster wandern über eine Hügelkette; ein schläfriger Löwe streift an einem Flusslauf entlang; ein Gepard ruht in den heißen Mittagsstunden unter einem Baum; Kaffernbüffel mit mächtigem Gehörn stehen respekteinflößend beisammen – und immer wieder Herden, Hunderte von Tieren, die sich in Gruppen grasend über die Savanne bewegen. Und am Abend, wenn der Himmel sich orangerot färbt, verwandeln sich die Schirmakazien in nachtblauschwarze Scherenschnitte. 

Die Weite der Savanne und der große Tierreichtum des Ngorongoro-Kraters bietet Fotografen das, was anderswo längst verloren gegangen ist: eine Welt, die ursprünglich und unberührt wirkt, so schön und echt, dass sie mir wie ein Bild aus den frühen Tagen unserer Erde erscheint. Besonders die Koinzidenz zwischen der Landschaft und den Tieren berührt mich. Die Welt scheint hier in Ordnung zu sein, ihr Lauf ungestört. 

Aber die Realität sieht anders aus: Immer mehr Touristen fahren durch die offene Savannenlandschaft. Der Tourismus ist in Tansania zum größten Devisenbringer geworden. Doch zugleich sinkt die Zahl der Wildtiere – auch durch Wilderer und Trophäenjäger. Zudem hat sich die Zahl der Rinder vervielfacht, die von den Massai zum Weiden illegal in die Schutzgebiete getrieben werden. Und auch Tansanias Bevölkerung wächst rasant, sodass mehr und mehr Land für die Ernährung der Menschen benötigt wird. Entscheidendes muss geschehen, um die Naturbühnen und Wildtierherden Afrikas zu erhalten, die zu den kostbarsten Schätzen unseres Planeten zählen. 

Stolze Massai

Jenseits des Ngorongoro-Kraters wandere ich Tage später mit zwei ortskundigen Massai, Sami und Alex, durch eine wilde und einsame Landschaft, die meine Begleiter als ihr Land bezeichnen. In rote Gewänder gekleidet, tragen sie als Schuhwerk aus Autoreifen geschnittene Sandalen. Ihr Stolz und ihre aristokratische Haltung beim Zu-Fuß-Reisen offenbart mir ihre Selbstsicherheit, mit der sie im unwegsamen Gelände unterwegs sind. 

Tage und Landschaften ziehen dahin. Gehen, sehen und fotografieren sind eins, fließen ineinander. Meine beiden Massai-Guides sind wunderbare Begleiter; mit ihnen besuche ich einige Massai-Dörfer, meist nur eine Handvoll Rundhütten aus Ästen, Lehm und Kuhdung gefertigt. Ohne Scheu werde ich freundlich begrüßt; ich lerne Menschen kennen, die viel lieber durch die Savanne ziehen als in Städten zu leben. Dann wieder das Gehen über lang gestreckte Hügelketten und durch dichten Regenwald. Sami und Alex erzählen mir uralte Legenden, die mit der Landschaft eng verbunden sind. Es sind Geschichten, halb real, halb erfunden, die jene These belegen, dass Mythen niemals wahr sind, aber immer wahr bleiben. Und am Abend, wenn wir unsere Zelte errichtet haben, schauen wir in den Glitzerhimmel über uns: jeder Stern ein Hochkaräter.

Juwelenartiger See

Höhepunkt unserer Wanderung ist der Empakaai-Vulkankrater, der im Zorn des Massai-Gottes Engai entstanden sein soll. Aus einer Höhe von 2.600 Metern bietet sich mir ein fantastischer Ausblick: Umgeben von 300 Meter hohen Felswänden, die dicht bewaldet sind, schimmert in der Tiefe der Caldera ein kreisrunder See mit einem Durchmesser von sechs Kilometern. Wie ein Juwel funkelt das leicht alkalische Gewässer. Noch heute bringen Massai immer wieder Opfergaben an den See, um ihren Gott wohlwollend zu stimmen. An den Ufern stolzieren Hunderte Zwergflamingos. Ganz tief prägen sich mir die Landschafts- und Tierbilder ein, ehe ich zu meiner Kamera greife, um Bilder einzufangen, denen ich in meinem Traum von Afrika nachgegangen bin, jenseits von Dürre, Bürgerkrieg, Hungersnot, Korruption und Pandemie. Afrika ist zum Weinen schön. Dem wird jeder zustimmen, der eine empfindsame Seele hat. 

Aaron Moser
… lebt in Hamburg und arbeitet als Kameramann und Autor beim NDR. Zudem ist er als Fotograf und Vortrags­referent tätig. Für Reisemagazine fotografierte er u. a. in Afrika, Thailand, Island und Schottland. 2019 realisierte er als Regisseur und Kameramann den erfolg­reichen Kinofilm »Mein Vater, mein Sohn und der Kilimandscharo«. Neben der Präsentation von Live-Multimedia-Shows leitet er Foto­workshops auf bundesweiten Reisemessen. | www.aaronmoser.de