Die Reaktionen waren vorhersehbar: Kaum hatte Canon zusammen mit der EOS R5 und EOS R6 die neuen RF-Superteles 11/600 mm und 11/800 mm vorgestellt, meldeten sich zahlreiche mal mehr, mal weniger bekannte »Foren-Experten« mit einer Vielzahl an Gründen zu Wort, warum diese Objektive eigentlich komplett überflüssig und unbrauchbar sein sollten. Da wurden Vergleiche zum 4/600 mm oder 5,6/800 mm gezogen, ausführlich beschrieben, dass mit f/11 bei wenig Licht nichts geht und dass die kleine Blende das Freistellen von Motiven praktisch unmöglich mache.
In ihrem Eifer übersahen die Schreiber allerdings, dass zum einen der Vergleich mit Objektiven, die deutlich über 10.000 € und damit gut zehnmal mehr kosten, per se hinken muss, und dass sich zum anderen in den letzten Jahren hinsichtlich der Kameratechnik eine Menge getan hat. Letzteres sorgt nun eben auch dafür, dass solche Objektive in vielerlei Hinsicht eine sinnvolle und nützliche Erweiterung des Angebots darstellen. Warum das so ist, werde ich in diesem Beitrag anhand meiner in mittlerweile gut zwei Monaten gesammelten Erfahrungen darlegen.
In der Hand
Schon im Design unterscheiden sich die beiden Teles grundlegend von dem, was man bislang kennt. Äußerlich ähneln sie eher einem Spektiv als einem Teleobjektiv. Auch die Tatsache, dass man vor der Aufnahme erst den Tubus ausfahren muss, ist zumindest ungewohnt. Ganz und gar erfreulich aber sind Abmessungen und Gewicht. Mit 930 bzw. 1.260 Gramm sind die RF-Teles erheblich leichter als die seit einiger Zeit äußerst beliebten 150-600 mm-Telezooms – selbstverständlich aber bieten sie eben auch keine Zoom-Option. Dafür kann man sie auch längere Zeit aus der Hand einsetzen, ohne sich zumindest nach einem Einbeinstativ zu sehnen. Die Verarbeitung ist ordentlich, wenngleich naturgemäß einiges an Kunststoff verbaut wurde. Abdichtungen gegen Staub und Feuchtigkeit sind nicht vorhanden und, was ich besonders bedauerlich finde, eine Streulichtblende ist nicht im Lieferumfang enthalten. Die kostet stolze 49 Euro, ist aber sicher sowohl als Schutz vor Streulicht als auch vor Schädigungen der Frontlinse sehr sinnvoll. Zwar wird man sich bei der Fokussierung meist auf den AF verlassen, allerdings funktioniert auch manuelles Scharfstellen über den griffigen Einstellring tadellos.
Die beiden RF Extender – 1,4x und 2x – entsprechen dem Standard, den man von den Canon-L-Objektiven kennt. Sie sind mit Dichtungen gegen das Eindringen von Feuchtigkeit gesichert und verfügen über einen soliden Metalltubus. Die weiße Farbe deutet zudem darauf hin, dass sie auch mit den kommenden lichtstarken Telefestbrennweiten verwendbar sein werden. Extrem bedauerlich ist allerdings, das sie neben den beiden hier vorgestellten Objektiven zwar mit dem RF 100-500 mm F4,5-7,1 L IS USM, nicht aber mit dem RF 70-200 mm F2,8 L IS USM sowie dem 70-200 mm F 4,0 L IS USM kompatibel sind.
Um die Objektive verwenden zu können, muss man zunächst den Tubus ausfahren. Dadurch verlängern sie sich um knapp 10 Zentimeter. Die Bedienelemente umfassen einen Fokusbereichsbegrenzer, der bei weiter entfernten Motiven den AF durchaus merklich beschleunigt, sowie die Tasten für AF/MF und den Bildstabilisator. Darüber hinaus sind beide Objektive mit einem Stativgewinde ausgestattet, das allerdings leider nur im Querformat wirklich sinnvoll zu nutzen ist. Für Hochformataufnahmen muss man den Stativkopf dann zur Seite kippen, was der Stabilität nicht zuträglich ist.
AF und Bildstabilisator
Während man sich bei aktuellen Spiegelreflexkameras schon freut, wenn der Autofokus im Sucher-Modus (nicht LiveView) noch bei Objektiven mit einer Anfangsöffnung von f/8 einigermaßen funktioniert, ist das bei den Spiegellosen kein Problem. Genau das ist auch der Grund, warum Objektive wie das RF 11/600 mm und das 11/800 mm überhaupt sinnvoll und möglich sind. Zwar ist der Bildausschnitt, innerhalb dem der AF funktioniert, gegenüber lichtstärkeren Objektiven deutlich eingeschränkt. Fokussieren lässt sich nur in einer zentralen, rund ein Drittel der Bildfläche abdeckenden Zone. Das aber ist immer noch mehr als die meisten DSLRs unabhängig von der Objektivlichtstärke erlauben und die Zone wird auch nicht kleiner, wenn man die Objektive mit den Konvertern kombiniert.
Abgesehen von der eingeschränkten Fläche aber funktionierte der AF – im Test in Kombination mit der EOS R5 – zügig und zuverlässig. Alle Funktionen wie Tracking und die Augenerkennung bei Tieren lassen sich ohne Einschränkung nutzen. Im Vergleich zu lichtstärkeren Objektiven wie dem EF 2,8/200 mm L USM und selbst dem Zoom-Allrounder RF 4-6,3/24-240 mm IS USM konnte ich durchaus eine merklich trägere Reaktion feststellen. Draußen in der Praxis hatte ich gleichwohl selten das Gefühl, Bilder aufgrund des langsamen AF verpasst zu haben. Fliegende Enten und Gänse und auch durchs Gebüsch hüpfende Singvögel wurden schnell und sicher erfasst – sowohl mit als auch ohne Konverter. Einen signifikanten Geschwindigkeitsunterschied bemerkte ich bei Verwendung der Konverter allenfalls bei extrem schlechten Lichtverhältnissen, beispielsweise in Situationen, wo sich bei ISO 12.800 Belichtungszeiten von unter 1/30 sec ergaben. Dann ist es allerdings wirklich schon ganz schön düster.
Bildqualität
Beide Objektive gleichen sich in ihrer Abbildungscharakteristik weitgehend und verhalten sich auch bei Verwendung der Konverter praktisch gleich. Die Abbildungsleistung ohne Konverter ist absolut überzeugend. Die Bilder sind scharf und zu den Rändern ist praktisch kein Schärfeabfall zu erkennen. Bei homogenem Hintergrund ist eine sanft zunehmende Vignettierung feststellbar, die sich aber problemlos in der Nachbearbeitung korrigieren lässt. Chromatische Aberration ist selbst bei 100 Prozent-Ansicht allenfalls zu den Rändern hin so eben erkennbar. Erstaunlicherweise sorgen weder der 1,4- noch der 2fach-Konverter für einen merklichen Qualitätsverlust. Beim Extender 1,4x leicht, beim Extender 2x etwas deutlicher ausgeprägt ist die chromatische Aberration in den Randbereichen. Auch die Schärfe lässt in Kombination mit den Konvertern zu den Rändern hin etwas nach, was aber in der Praxis meist weitgehend bedeutungslos sein dürfte. Hier beschrieben ist der Zustand der völlig unbearbeiteten Raw-Dateien. Wendet man in Lightroom oder DxO PhotoLab 4 die entsprechenden Korrekturprofile an, bleibt von den genannten Abbildungsfehlern nicht mehr viel übrig.
In Praxis
Mein persönlicher Favorit ist das RF 11/800 mm, bei Bedarf mit dem RF Extender 1,4x. Mit dieser Kombination stehen mir stolze 1.120 mm Brennweite zur Verfügung und damit mehr als mit einem 150-600 mm-Zoom an einer APS-C-Kamera (kleinbildäquivalente 960 mm). Natürlich ohne die in vielen Situationen zweifellos begrüßenswerte Flexibilität des Zooms. Aber dafür ist das 800er eben auch selbst mit Konverter noch rund ein Pfund leichter als so ein Zoom. Beim Blick durch den elektronischen Sucher der R5 zeigt sich selbst bei Verwendung eines Konverters ein ebenso klares, helles Bild wie bei Verwendung eines deutlich lichtstärkeren Objektivs. Das sähe an einer Spiegelreflexkamera ganz anders, nämlich sehr düster, aus. Dank dem Bildstabilisator, der zuverlässig drei bis vier Zeitstufen kompensiert, kann man ohne Stativ ohne Weiteres in einem Zeitenbereich zwischen 1/60 und 1/125 sec fotografieren – vorausgesetzt, die Tiere halten ausreichend still. Kombiniert mit der mittlerweile sehr guten Abbildungsleistung bei ISO-Werten bis 6.400, stößt man trotz der kleinen Blendenöffnung selten an Grenzen. Selbstverständlich ist in den Grenzbereichen des Tages Blende 4 oder 5,6 wünschenswert. Allerdings bringen entsprechende Objektive wie ein 4/600 mm oder 5,6/800 mm eben rund 4 bis 5 Kilogramm auf die Waage, kosten soviel wie ein Kleinwagen und sind ohne Stativ kaum zu verwenden. Wer gerne mit möglichst leichtem Gepäck durch die Landschaft streift und Vögel oder andere scheue Tiere fotografieren möchte, wird von diesen Teleobjektiven nicht enttäuscht sein. Auch für die Mitnahme auf Fernreisen, etwa nach Ostafrika oder Indien, wo Lichtmangel eher selten ein Problem ist, sind diese Linsen ideal. In Verbindung mit den Konvertern erreicht man Brennweiten, die dem sehr nahekommen, was mit Digiskopie möglich ist, allerdings komfortabler und ohne Adapter. So bieten sich die Superteles auch für die wissenschaftliche Dokumentation scheuer Tiere an.
Fazit
Canon liefert mit diesen beiden bislang konkurrenzlos kompakten Teleobjektiven enorm viel Brennweite und hohe optische Leistung zum erschwinglichen Preis. Insbesondere das RF 11/800 mm bietet gegenüber den weitverbreiteten 150-600 mm Zooms noch mal bedeutend mehr Brennweite, die sich dann mit einem der Konverter noch einmal beträchtlich verlängern lässt. In einer preiswerten Tierfotografen-Ausrüstung kann es daher so ein Supertelezoom gut ergänzen. Auch wer meist auf eine der lichtstarken Telefestbrennweiten setzt, wird in manchen Situationen die Handlichkeit dieser außergewöhnlichen Optiken schätzen lernen.
Hans-Peter Schaub
www.hanspeterschaub.de